WARUM GEHT ES DEM WOLF SO SCHLECHT?
Der Nationale Bericht nach Artikel 17 der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) für die Jahre 2013-18, kurz FFH-Bericht hat nach seinem Erscheinen zu einer Vielzahl kritischer Kommentare und Nachfragen ob dort zu lesenden Angaben zum Wolf in Deutschland geführt. Die dazu bekannten Antworten gaben teilweise mehr Rätsel auf als der Bericht selbst, zeugten sie doch von einer sehr abseitigen Auslegung der FFH-RL mit ihren sehr umfangreichen Anleitungen für eine korrekte Berichterstattung.
Gefühlt war über diese Geschichte bereits wieder Gras gewachsen, aber im Bundesamt für Naturschutz sah man anscheinend so großen Erklärungsbedarf zum Thema, dass mit Beiträgen dazu die komplette Januarausgabe der „Natur und Landschaft“ gefüllt wurde. Ob das gelungen ist, soll hier anhand des Beitrages
„Luchs und Wolf in Deutschland – Bewertung des Erhaltungszustandes gemäß FFH-Richtlinie“, DOI: 10.17433/1.2021.50153873.34-42, von Annika Tiesmeyer, Katharina Steyer, Götz Ellwanger, Marion Ersfeld und Sandra Balzer, sämtlich im Fachgebiet II des BfN verortet, geklärt werden.
Dabei ist es ein ehrgeiziges Unterfangen, die gestellte Aufgabe anhand zweier Arten lösen zu wollen, die zwar beide zu den Großprädatoren in Mitteleuropa zählen, aber in ihrer Biologie und vor allem vor dem Hintergrund der Herkunft in Deutschland unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Luchs als solitärer Felide lebt in Deutschland in einer neu ausgesetzten Population, der Wolf wiederum als Canide in Rudelverbänden und ist auf eigenen Pfoten nach Deutschland zurückgekehrt. Damit bietet sich der direkte Vergleich beider Arten im Rahmen des Artenschutzes nicht an. Hier soll es ausschließlich um den Umgang mit dem Wolf gehen.
Die Grundlagen der Berichterstattung an die EU sind in einem umfangreichen Dokument, den „Explanatory Notes and Guidelines for the period 2013–2018”[1] (Guidelines) niedergelegt. Der Zustand von Arten und Lebensräumen ist dazu alle sechs Jahre von den Mitgliedsländern nach festgelegten Parametern, die hier nicht insgesamt wiederholt werden können, zu bewerten. Dabei gilt als Grundprinzip, dass für jede Art in jeder biogeografischen Region des Landes, in der sie vorkommt, eine getrennte Bewertung zu erfolgen hat.
Keine Regel ohne Ausnahme!
Die Leitlinien verweisen in aller Klarheit darauf, dass in Bezug auf die Großprädatoren ein anderer Ansatz zu gelten hat. Um hierzu jegliche Zweifel auszuräumen, hier der entsprechende Absatz aus dem Originaldokument (Zitat):
„Guidance has been published by the European Commission for large carnivores. Although produced from a management perspective this may be a source of information for this species group (Boitani et al., 2015). For reporting under Article 17, in cases of conflicting advice, the guidance given in these guidelines takes priority.”[2]
Bei dem genannten Bezugsdokument handelt es sich um die im Auftrag der EU-Kommission erarbeiteten „Leitlinien für Managementpläne auf Populationsniveau für Großraubtiere“[3], die in BMU und BfN seit über einem Jahrzehnt in Originalübersetzung vorliegen, aber ungeachtet ihrer sehr konkreten Ansätze und Empfehlungen geflissentlich ignoriert werden.
Die konsequente Nichtbeachtung dieser Regel ist ein fachlicher Mangel des aktuellen wie des vorangegangenen FFH-Berichtes[4] zum Wolf, der sich auch durch den vorliegenden Text aus dem BfN nicht klärt.
Der Aufsatz gibt weiterhin vor, die eigenen Ergebnisse mit den nationalen Berichten der angrenzenden EU-Mitgliedsstaaten in eine Beziehung zu setzen. Das wäre zuvorderst mit Polen eine Grundbedingung. Polen beherbergt einen in etwa gleichgroßen Teil der wissenschaftlich umstrittenen „Mitteleuropäischen Flachlandpopulation“ (MFP) des Wolfes, deren östliche Abgrenzung weder geografisch noch genetisch eindeutig ist. Unumstritten ist dabei, dass die Quellpopulation des heutigen mitteleuropäischen Wolfsbestandes im Nordosten Polens und im Baltikum mit diesem eine genetische Einheit bildet (Czarnomska et al. 2013[5]), die relativ geringe Einflüsse aus anderen Vorkommensgebieten erfährt.
Es wäre daher zielführend, entsprechend den Forderungen der Leitlinien eine gemeinsame oder zumindest abgestimmte Einschätzung des Erhaltungszustandes dieser MFP vorzunehmen. Nach der im Aufsatz postulierten Bedingung (Zitat): „Daher ist für eine gemeinsame Berichterstattung ein abgestimmtes und standardisiertes Vorgehen beim Monitoring und Management Voraussetzung. Diese Voraussetzung wird bislang mit keinem anderen Nachbarstaat erfüllt.“ Ist das durchaus korrekt, wenn ungeachtet einer umfassenden Zusammenarbeit der Beteiligten, die bis hin zur Herausgabe gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeiten und dem Austausch genetischer Daten reicht, offenkundig nicht das geringste Interesse besteht, diesem von den Beteiligten selbst verfassten Ansatz Folge zu leisten? Die Guidelines hängen hierzu auf der Seite 106 die Hürde deutlich niedriger.
Cui bono? Ergebnisse mit unterschiedlichen Rechenansätzen lassen sich für Außenstehende nur schwer vergleichen. An dieser Stelle ist das Streitthema „Wie zählt man Wildtiere?“ unvermeidlich. Hier gibt es eine Fehlstelle in den Leitlinien der EU, die den berichtenden Mitgliedsstaaten fast schon Narrenfreiheit gewährt, ob man bezogen auf den Wolf nach belegt reproduzierenden Paaren, territorialen Tieren, adulten Individuen oder geschätzten bzw. hochgerechneten Beständen seine Angaben macht. Wer es korrekt macht und die ermittelten Werte entsprechend kennzeichnet, ermöglicht wenigstens eine bedingte Vergleichbarkeit von Ergebnissen. Schon diese Mindestanforderung haben Deutschland und Polen in jetzt 20 Jahren gemeinsamen Wolfsbestandes nicht erfüllt, wenn nicht gezielt vermieden.
In beiden Ländern gibt es offenbar bei den Verantwortlichen ein gezieltes Interesse, den tatsächlichen Erhaltungszustand schlechter darzustellen, als er tatsächlich ist. Es scheint, als würden staatliche Artenschützer den Erfolg der eigenen Arbeit fürchten. Dabei werden sehr ähnliche Ansätze verfolgt.
Polen gibt in seinen Berichten zwar aktuelle und als realistisch einzuschätzende Bestandszahlen für seinen Anteil an der gemeinsamen Wolfpopulation an, schiebt aber einer positiven Einschätzung des Erhaltungszustandes bereits seit dem vorangegangenen Bericht in Feld 11.8 einen klaren Riegel vor, (Zitat, hier übersetzt): „In der westlichen Kontinentalregion entwickelt sich die Wolfspopulation weiter und hat FRR und FRP wahrscheinlich noch nicht erreicht. Daher erhielten der Parameter "Bereich" und der Parameter "Population" eine U1-Bewertung. Erst die Stabilisierung des Verbreitungsgebiets und der Bestandsgröße wird die Grundlage für die Vergabe der FV-Note bilden."[6] Unter dieser Voraussetzung, die sich an keiner Stelle aus den Leitlinien ableiten lässt, würde eine Art erst dann ihren günstigen Erhaltungszustand erreichen, wenn die Habitatkapazität in ihrem möglichen Verbreitungsgebiet erschöpft ist.
Deutschland enthält sich zwar im Bericht eines solchen Kommentars, beantwortet dafür die Frage in Feld 7.1a Fläche und Qualität des besetzten Lebensraums - Sind Fläche und Qualität des besetzten Lebensraums ausreichend (für ein langfristiges Überleben)? für beide Teilgebiete mit „Nein“. Eine Erklärung findet sich im Abschnitt 2 des Aufsatzes (Zitat): „Es soll so lange mit Operatoren gearbeitet werden, bis die Populationsgroße und Verbreitung für einen längeren Zeitraum stabil sind.“
Das Arbeiten mit Operatoren ist eine erlaubte Methode, um keine konkreten Referenzwerte für den günstigen Erhaltungszustand der Art (FRV) in Bezug auf die Größe der Population und deren Ausbreitung anzugeben. Man beruft sich dabei auf die Möglichkeit, hier nicht mit Zahlen, sondern mit bestimmten Operatoren zu arbeiten. Für Deutschland findet sich dazu wahlweise das Kürzel „mmt“ (much more than) oder „>>“ = viel größer als in den Berichten wieder. Es wird im Text auch ausführlich beschrieben, warum man so vorgeht, aber man hat dabei übersehen, dass diese Methode ausschließlich bei einer populationsbasierten Bewertung des Erhaltungszustandes anzuwenden ist, der man sich in beiden Ländern nachhaltig verweigert.[7]
Eher eine Randbemerkung ist das konsequente Kleinrechnen des Wolfsbestandes in DE durch das BfN, indem man regelmäßig nur die nachgewiesenen territorialen Tiere eines abgelaufenen Monitoringjahres angeben mag und dies mit deutlicher Verzögerung der Öffentlichkeit als aktuellen „Wolfsbestand“ verkauft. Ungeachtet regelmäßiger öffentlicher Kritik an dieser Praxis wendet man diese Methode auch auf die Berichterstattung an die EU an. Die Angaben zum Wolf im Bericht für die Jahre 2013-18 entsprechen tatsächlich dem Zeitraum 2013-2016, weil man nicht bereit oder in der Lage war, den ersten Berichtsentwurf aus dem Sommer 2018 bis zum Abgabetermin am 2.7.2019 zu aktualisieren. Effizienz geht anders!
Offenbar ist man im BfN über den tatsächlichen Erhaltungszustand von Wolf und Luchs in unserem Land nicht wirklich informiert, wenn beiden man Arten diese Zukunft zu bescheinigen versucht (Zitat): „Dennoch sind die Zukunftsaussichten für beide Arten mit ungünstig-unzureichend und die Gesamtbewertung mit ungünstig-schlecht bewertet worden. Somit sind beide Arten noch weit von sich selbstständig und langfristig erhaltenden Populationen in den jeweiligen biogeographischen Regionen in Deutschland entfernt.“
Der Wolfsbestand hat sich in 20 Jahren seit der ersten belegten Reproduktion selbstständig bis 2019/20 in 173 bestätigte Territorien ausgebreitet. Die Nachweise von Wölfen aus diesem Bestand in unseren Nachbarländern Belgien, Niederlande, Dänemark und Tschechien wären hinzuzurechnen, wenn man dem von der FFH-RL geforderten Ansatz der Bewertung auf Populationsebene folgt. Einem Ansatz darf man dabei aber nicht folgen, eine Art hat nicht erst dann ihren günstigen Erhaltungszustand erreicht, wenn ihr Bestand nicht mehr wächst, weil die Habitatkapazität erschöpft ist. Den Nachweis einer Wolfspopulation, die sich in einer dicht besiedelten Kulturlandschaft selbst reguliert, suchen wir in der Fachliteratur vergebens.
Zu diesen Punkt müssen Deutschland und Polen in Sachen Wolf ganz schnell umdenken, bevor dem sensiblen Ökosystem Kulturlandschaft durch weiteres Nichtstun im „Wolfsmanagement“ irreversible Schäden zugefügt werden.
Es kann nicht sein, dass Deutschland in FFH-Berichten fortgesetzt von vorliegenden Leitlinien der EU abweicht und dies auch in Brüssel kommentarlos hingenommen wird. Der Wolf ist in Mitteleuropa keine gefährdete Art mehr. Welche Fehler verbergen sich in den Berichten, die tatsächlich gefährdete aber weniger im Rampenlicht stehende Arten betreffen? Wird das BfN bemerken, wenn sie ausgestorben sind?
Fehlt diese Einsicht bei den damit betrauten Stellen, was man dem vorliegenden Aufsatz aus dem BfN entnehmen muss, bedarf es verantwortungsvoller Politiker und Bürger, weiteres Unheil zu verhindern.
Quellen:
[1] https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/natura2000/Dokumente/Reporting_guidelines_Article_17_final_May_2017.pdf
[2] Ebenda S. 107
[3] http://www.wolfszone.de/media/files/lcie-leitlinien-fuer-mplaene-2008-de.pdf
[4] Zugang zu allen nationalen FFH-Berichten zum Wolf: https://nature-art17.eionet.europa.eu/article17/species/summary/?period=5&group=Mammals&subject=Canis+lupus®ion=
[5] Czarnomska et al., Concordant mitochondrial and microsatellite DNA structuring between Polish lowland and Carpathian Mountain wolves (2013)
[6] http://cdr.eionet.europa.eu/Converters/run_conversion?file=pl/eu/art17/envxkxmqa/PL_species_reports-20190826-142640.xml&conv=593&source=remote#1352
[7] Bijlsma et al. (2018), Defining and applying the concept of Favourable Reference Values for species and habitats under the EU Birds and Habitats Directives